Sonntag, 27. Oktober 2013

20. Wiener Brief 2.0

„Das Konzert“

Der Schauplatz der Geschichte ist, wie könnte es in Wien anders sein, eines der traditionellen alterehrwürdigen Häuser im Herzen Wiens. Hier treffen sich Freunde der Musik und heute bin auch ich hier.
Mit meiner zauberhaften Frau an meiner Seite betrete ich das imposante Gebäude und merke, dass ich nicht sonderlich gut für den Abend vorbereitet bin. Man könnte meinen, dass man sich besser über die Dinge die einem in den nächsten zwei Stunden erwarten werden informiert. Aber heute reicht es aus, vorläufig zu wissen, dass wir ein Konzert eines der bekannten Orchester Wiens hören werden. Ich muss auch nicht jeden Kinofilm vor Beginn auswendig kennen, um ihn mir anzusehen. Ein bisserl Überraschung im Leben schadet nicht.
Das Haus verfügt über eine funktionierende Infrastruktur in ausreichendem Maße. Sprich, die Garderoben sind so zahlreich, dass man sich nicht anstellen muss, weder vor noch nach dem Konzert und dasselbe gilt eingeschränkt für die Getränkeversorgung. Kurze Wartezeiten werden hier in schöner Erwartung des Abends einfach weggelächelt. Traditionellerweise beginnt man als Zuhörer das Konzert mit einem Glaserl Sekt. Und als durchaus traditionsbewusste Menschen werden wir hier keine Ausnahme machen.
Die Plätze sind schnell gefunden und weisen den Vorteil auf, dass sie am Mittelgang liegen. So kann man bei Bedarf schnell und ohne groß zu stören flüchten. Der Nachteil ist, dass die gesamte restliche Reihe bei uns vorbei muss. Und natürlich kommen alle anderen später als wir.
Der Saal ist atemberaubend. Genau so stellt man sich das Ambiente für einen Konzertabend mit klassischer Musik für. Über und über mit Gold verzierte Brüstungen, Gold und Gemälde an der Decke und Kristallluster die einen fast erblinden lassen. Hier wird man sich der guten alten Kaiserzeit noch fast körperlich gewahr. Hier ist die Welt noch in Ordnung und alles Unschöne und Bedauernswerte wird beim Schließen der Türen für die Dauer des Abends ausgesperrt.
Der Dirigent betritt den Saal und Applaus brandet auf. Er stellt das Orchester vor, also nicht namentlich, sondern mit einer ausschweifenden Armbewegung und entlockt mit einer fast unmerklichen Bewegung seines Taktstocks dem Orchester die ersten Töne. Es hat begonnen und es ist beeindruckend. Im Auditorium herrscht Stille.
Die Musik scheint hier mehr zu sein als nur profane Physik, Schallwellen die sich im Raum fortpflanzen und schließlich unser Ohr erreichen. Es liegt Gefühl in der Luft, das sich mit der Musik verbindet und gemeinsam den ganzen Körper erfüllt. Man kann die Musik spüren. Ich schließe die Augen und genieße den Augenblick.
Hust.
Die Musik nimmt Schwung auf und erklimmt mit sagenhafter Eleganz Höhen und steigert sich in ein angenehm beschwingtes Tempo, um die erste musikalische Stille vorzubereiten. Und da ist sie, kaum wahrnehmbar. So zart und leicht, dass man sich kaum getraut, sie sich bewusst zu machen, vor Angst, man könne sie zerstören.
Knarz. Räusper. Hüstel.
Sie umschmeichelt und haucht zart ins Ohr. Nur um im nächsten Augenblick den Druck zu erhöhen, um sich wieder Gehör zu verschaffen. Aber immer ohne auf ihre Harmonien zu verzichten.
Hust. Räusper. Knaaarz. Schnäuz. Hüstel. Klimper.
Erstmals werde ich mir der störenden Hintergrundgeräusche bewusst. Waren die immer schon da, oder haben sie sich erst entwickelt? Eine Melodie die hier so passend ist, wie ein Farbenblinder für eine Farbberatung, durchbricht meine Gedanken. Ein Handy verschafft sich Aufmerksamkeit. Kommentarvoll wird versucht das durchaus wahrzunehmende Geräusch unter Kontrolle zu bringen. „I habs sicher ausgschalten“. „Naaa, deis muss si selber einschalten haben“. Anstatt sich zu konzentrieren und das Abspielen des immer wieder kehrenden Klingeltones unter Kontrolle zu bringen, und die Tasche in der sich das Telefon befindet zuzuhalten zähle ich nicht dazu, wird auf die moderne Technik geschimpft, ohne sich die Vorteile wieder Mal bewusst vor Augen zu führen, die uns technische Revolutionen gebracht haben, wenn man sie beherrscht. Was bleibt ist, dass man offensichtlich menschlich immer noch nicht so weit ist, zu den eigenen Fehlern zu stehen. Immer sind die anderen oder irgendwas anderes schuld, nie man selbst.
Zu meinem Glück war es eine relativ leise Störung, zu meinem Pech war sie direkt hinter mir. Ein Blick über meine Schulter mit anschließendem Kopfschütteln sollte als sanfte Maßregelung fürs Erste reichen. Man möchte einer Dame im fortgeschrittenen Alter ja nicht ins Gesicht sagen, dass sie sich gefälligst benehmen soll. Mit geschätzten 80 hat sie das wahrscheinlich nicht verdient. Zumal sie ja offensichtlich mit ihrer Mutter im Konzert ist.
Mit dem Schulterblick konnte ich aber auch eine der Störquellen, nämlich die, die das Geklimper verursacht hat, identifizieren. Die ältere Dame. In Ihrem Goldschmuckbehang würde sie die meisten hell erleuchtenden Christbäume erblassen lassen. Vielleicht schön anzusehen, nur klimpert es bei jeder Bewegung. Und da die Körperkontrolle mit dem Alter anscheinend zusehends schwindet, klimpert es sehr häufig. Und das stört mich. Es fühlt sich ein bisserl so an, als ob ein Bewegungslegastheniker eine zusätzliche Triangel hinter mir schlagen würde. Leise, aber immer im Bereich des Wahrnehmbaren.
Applaus reißt mich aus meinen Gedanken und lässt mich zurückkehren in die schöne mich umgebende Welt. Das zweite Stück des Abends erwartet seine Darbietung. Die ersten Töne haben kaum mein Ohr erreicht, da queren bereits wieder die ersten Störgeräusche die Harmonien des Abends. Ist es möglich, dass man für nur etwa fünf Sekunden die Kontrolle über seinen Körper hat und dann unweigerlich Husten oder sich am Sessel bewegen muss, im vollen Bewusstsein, dass dieser Knarzen wird?
Ein weiteres festgestelltes Phänomen des Abends ist es, dass, wenn sich jemand die Freiheit nimmt, sich des im Rachen gesammelten Auswurfs mittels Räuspern zu entledigen, stimmen sogleich eine Vielzahl von Sympathisanten ein und tun es ihm gleich. Fast ungeniert wird geräuspert und gehüstelt was das Zeug hält. Und weil sich eh gerade alle Husten und Räuspern nutzt man die Gelegenheit und ändert geräuschvoll die Sitzposition. Das geht ja quasi unter in den störenden Geräuschen. Und das alles fast unmittelbar nach der Applauspause. Ich nehme mir die Freiheit von Entdeckern, Neuentdeckungen einen Namen vergeben zu dürfen und nenne sie Trittbrettstörer. Aber wirkliche Schuld würde nur derjenigen haben, der angefangen hat.
Gab es die während des Konzerts störenden Geräusche eigentlich auch während des Applauses, oder komme diese nur während der musikalischen Darbietung vor? Ich mache mir eine Gedankennotiz, dies bei nächster Gelegenheit zu prüfen und eventuell wieder mit einem Namen von mir zu versehen.
Die Musik wird mittlerweile von einer Gesangssolistin begleitet und ich versuche mich wieder in ihr zu verlieren.
Klimper. Hüstel.
Diesmal ein böser Blick über die Schulter und kräftiges Kopfschütteln.
Schneuz.
Es ist Pause. Gott sei Dank. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, ob ich mich noch voll im Griff hatte. Ab zur Labstelle des Hauses und ein Glaserl Sekt zur Beruhigung bestellt. Vielleicht sollte das Haus eine Runde ausgeben, um all die trockenen Kehlen zu befeuchten und so allen Zuhörern ein uneingeschränktes Musikerlebnis zu garantieren. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass das nur dazu führen würde, dass zumindest die Damen laufend aufstehen und zur Toilette gehen müssten. Die Herren würden sich mit mehr oder weniger geräuschvollem Aufstoßen begnügen. Also kein Sekt für alle.
Die Glocke mahnt zum Einnehmen der Plätze. Und Teil zwei des Abends kann beginnen. Wieder nimmt mich die Musik mit ihren ersten Tönen mit auf eine wunderschöne Reise in eine Welt voller Harmonie. Breitet ihre Schwingen im Raum aus und umschmiegt mich. Wohlige Wärme breitet sich im Körper aus. Die Musik manifestiert sich bereits körperlich. Und ich genieße es.
Räusper.
Wir schreiben etwa zehn Sekunden nach Wiederbeginn. Das könnte ein neuer Rekord sein. Und das Schlimmste dabei, ich bekomme selbst einen trockenen Hals. Die Trockenheit breitet sich aber nur im Rachen und im Hals aus. Die Feuchtigkeit aber konzentriert sich im Mund. Ich laufe Gefahr überzulaufen, also schlucke ich und erwarte in erboste Gesichter zu blicken. Aber anscheinend stört das Geräusch des Hinunterschluckens weit weniger als es viele andere tun.
Klimper.
Gedanklich belege ich mittlerweile viele der Gäste mit Hausverbot aus verschiedenen Gründen, wie zum Beispiel, dass das Tragen von Klangkörper am Körper nur Mitgliedern des Orchesters vorbehalten ist. Ich entwerfe auch bereits Tests, mit denen das Publikum vor Eintritt auf Eignung zum Stillsitzen überprüft wird. Und um all jenen die hier durchfallen, also geschätzte 80%, die Möglichkeit eines schönen Konzertabends nicht vorenthalten zu müssen und allen anderen, also den restlichen 20%, den Abend nicht zu vermiesen, könnten eigene abgetrennte Bereiche im Saal geschaffen werden, die hermetisch vom restlichen Publikum abgeschirmt sind. Oder sie bekommen eine CD an der Kasse für zu Hause.
Knaaaarz.
Der Versuch das Knarzen als Teil des Gebäudes zu sehen und ihm keine weitere Beachtung zu schenken, scheitert sang- und klanglos. Zudem wird die eigene Sitzposition unbequem. Ich versuche mich mit dem Wohlklang der Musik abzulenken.
Hust. Schneuz. Röchel.
Ich kann nicht mehr anders als mich nur noch auf die Störgeräusche zu konzentrieren. Die Musik gerät völlig in den Hintergrund. Ich warte gebannt auf die nächste Störung und versuche zu erraten, was es sein wird. Husten, Räuspern, oder Sesselrücken, was kommt als nächstes? Zusätzlich baue ich mir gedanklich ein Zählwerk, das bei jeder Störung umblättert, wie auf einer Anzeigetafel im Flughafen. Kaum eingerichtet muss ich das Zählwerk um eine Zehnerstelle erweitern. Ich verfeinere und lege für jede Kategorie eine eigene Zeile in der Anzeigetafel an. Husten, Räuspern, Knarzen und Diverses. Dahinter das jeweilige Zählwerk. Nach wenigen Minuten ist Räuspern fast uneinholbar an der Spitze, gefolgt von einem spannenden Zweikampf um Platz zwei zwischen Husten und Knarzen. Diverses liegt abgeschlagen auf Platz vier. Dafür bezahle ich also.
Klimper. Knarz. Hust.
Zwischendurch vernehme ich noch Musik, aber erfreuen kann ich mich daran nicht mehr.
Hüstel.
Vielmehr steigert sich meine Aggression ins Unermessliche.
Knaaaaarz.
Krampfhaft versuche ich
Räusper.
mich auf die Musik
Schneuz.
Zu
Klimper.
konzentrieren…
Schneuz. Röchel. Hust. Klimper. Räusper.
Ich kann nicht mehr! Es ist zu viel für mich!
Ich springe auf und schreite unter lautstarker Beschimpfung des körperkontrollunfähigen Publikums zur Türe, reiße diese auf und blicke in aufgebrachte Gesichter. Es ist mucksmäuschenstill, keiner wagt auch nur zu atmen. Was hätte ich für eine solche Stille während des Konzerts gegeben.
Ich bin noch in Gedanken und frage mich gerade, wie sie es nur so schnell geschafft haben so viele mir böse gesinnte Menschen hinter der Türe zu versammeln, stürzen sie sich auch schon auf mich. Billeteure, Sicherheitskräfte und selbst Servicepersonal begraben mich unter sich. Und plötzlich blitzt blank poliertes Metall auf und ich verspüre einen Schmerz in meiner Brust. Ich denke mir noch, aber mit Sektgläsern den Saal betreten ist verboten, schon spüre ich wie sich auf meinem Hemd etwas Warmes ausbreitet. Ich schreie.
Und ich wache auf. Schreiend springe ich auf und greife mir an die Brust. Der Fleck ist nicht zu übersehen und warm. Ebenso warm, wie man es von einem eben aus dem Mund ausgetretenen Speichel erwarten darf. Der den Fleck mit dem Mund verbindende Speichelfaden lässt keinen Interpretationsspielraum zu.
Ich nicke meiner Begleitung zu und verlasse das Konzert in einer Stille, die ein Publikum nie wieder erreichen wird.
Stille.
Stefan

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