„Das Konzert“
Der Schauplatz der Geschichte ist, wie könnte es in Wien
anders sein, eines der traditionellen alterehrwürdigen Häuser im Herzen Wiens.
Hier treffen sich Freunde der Musik und heute bin auch ich hier.
Mit meiner zauberhaften Frau an meiner Seite betrete ich das
imposante Gebäude und merke, dass ich nicht sonderlich gut für den Abend
vorbereitet bin. Man könnte meinen, dass man sich besser über die Dinge die
einem in den nächsten zwei Stunden erwarten werden informiert. Aber heute
reicht es aus, vorläufig zu wissen, dass wir ein Konzert eines der bekannten
Orchester Wiens hören werden. Ich muss auch nicht jeden Kinofilm vor Beginn
auswendig kennen, um ihn mir anzusehen. Ein bisserl Überraschung im Leben
schadet nicht.
Das Haus verfügt über eine funktionierende Infrastruktur in ausreichendem Maße. Sprich, die Garderoben sind so zahlreich, dass man
sich nicht anstellen muss, weder vor noch nach dem Konzert und dasselbe gilt eingeschränkt
für die Getränkeversorgung. Kurze Wartezeiten werden hier in schöner Erwartung des Abends
einfach weggelächelt. Traditionellerweise beginnt man als Zuhörer das Konzert
mit einem Glaserl Sekt. Und als durchaus traditionsbewusste Menschen werden
wir hier keine Ausnahme machen.
Die Plätze sind schnell gefunden und weisen den Vorteil auf,
dass sie am Mittelgang liegen. So kann man bei Bedarf schnell und ohne groß zu
stören flüchten. Der Nachteil ist, dass die gesamte restliche Reihe bei uns
vorbei muss. Und natürlich kommen alle anderen später als wir.
Der Saal ist atemberaubend. Genau so stellt man sich das
Ambiente für einen Konzertabend mit klassischer Musik für. Über und über mit
Gold verzierte Brüstungen, Gold und Gemälde an der Decke und Kristallluster die
einen fast erblinden lassen. Hier wird man sich der guten alten Kaiserzeit noch fast körperlich gewahr.
Hier ist die Welt noch in Ordnung und alles Unschöne und Bedauernswerte wird
beim Schließen der Türen für die Dauer des Abends ausgesperrt.
Der Dirigent betritt den Saal und Applaus brandet auf. Er
stellt das Orchester vor, also nicht namentlich, sondern mit einer
ausschweifenden Armbewegung und entlockt mit einer fast unmerklichen Bewegung
seines Taktstocks dem Orchester die ersten Töne. Es hat begonnen und es ist
beeindruckend. Im Auditorium herrscht Stille.
Die Musik scheint hier mehr zu sein als nur profane Physik,
Schallwellen die sich im Raum fortpflanzen und schließlich unser Ohr erreichen.
Es liegt Gefühl in der Luft, das sich mit der Musik verbindet und gemeinsam den
ganzen Körper erfüllt. Man kann die Musik spüren. Ich schließe die Augen und
genieße den Augenblick.
Hust.
Die Musik nimmt Schwung auf und erklimmt mit sagenhafter
Eleganz Höhen und steigert sich in ein angenehm beschwingtes Tempo, um die
erste musikalische Stille vorzubereiten. Und da ist sie, kaum wahrnehmbar. So
zart und leicht, dass man sich kaum getraut, sie sich bewusst zu machen, vor
Angst, man könne sie zerstören.
Knarz. Räusper. Hüstel.
Sie umschmeichelt und haucht zart ins Ohr. Nur um im
nächsten Augenblick den Druck zu erhöhen, um sich wieder Gehör zu
verschaffen. Aber immer ohne auf ihre Harmonien zu verzichten.
Hust. Räusper. Knaaarz. Schnäuz. Hüstel. Klimper.
Erstmals werde ich mir der störenden Hintergrundgeräusche
bewusst. Waren die immer schon da, oder haben sie sich erst entwickelt? Eine Melodie
die hier so passend ist, wie ein Farbenblinder für eine Farbberatung,
durchbricht meine Gedanken. Ein Handy verschafft sich Aufmerksamkeit.
Kommentarvoll wird versucht das durchaus wahrzunehmende Geräusch unter
Kontrolle zu bringen. „I habs sicher ausgschalten“. „Naaa, deis muss si selber
einschalten haben“. Anstatt sich zu konzentrieren und das Abspielen des immer
wieder kehrenden Klingeltones unter Kontrolle zu bringen, und die Tasche in der sich das Telefon befindet zuzuhalten zähle ich nicht dazu, wird auf die moderne
Technik geschimpft, ohne sich die Vorteile wieder Mal bewusst vor Augen zu
führen, die uns technische Revolutionen gebracht haben, wenn man sie
beherrscht. Was bleibt ist, dass man offensichtlich menschlich immer noch nicht
so weit ist, zu den eigenen Fehlern zu stehen. Immer sind die anderen oder
irgendwas anderes schuld, nie man selbst.
Zu meinem Glück war es eine relativ leise Störung, zu meinem
Pech war sie direkt hinter mir. Ein Blick über meine Schulter mit anschließendem
Kopfschütteln sollte als sanfte Maßregelung fürs Erste reichen. Man möchte einer
Dame im fortgeschrittenen Alter ja nicht ins Gesicht sagen, dass sie sich
gefälligst benehmen soll. Mit geschätzten 80 hat sie das wahrscheinlich
nicht verdient. Zumal sie ja offensichtlich mit ihrer Mutter im Konzert ist.
Mit dem Schulterblick konnte ich aber auch eine der Störquellen,
nämlich die, die das Geklimper verursacht hat, identifizieren. Die ältere Dame.
In Ihrem Goldschmuckbehang würde sie die meisten hell erleuchtenden Christbäume erblassen lassen.
Vielleicht schön anzusehen, nur klimpert es bei jeder Bewegung. Und da die
Körperkontrolle mit dem Alter anscheinend zusehends schwindet, klimpert es
sehr häufig. Und das stört mich. Es fühlt sich ein bisserl so an, als ob ein Bewegungslegastheniker eine zusätzliche
Triangel hinter mir schlagen würde. Leise, aber immer im Bereich des Wahrnehmbaren.
Applaus reißt mich aus meinen Gedanken und lässt mich
zurückkehren in die schöne mich umgebende Welt. Das zweite Stück des Abends erwartet
seine Darbietung. Die ersten Töne haben kaum mein Ohr erreicht, da queren
bereits wieder die ersten Störgeräusche die Harmonien des Abends. Ist es
möglich, dass man für nur etwa fünf Sekunden die Kontrolle über seinen Körper
hat und dann unweigerlich Husten oder sich am Sessel bewegen muss, im vollen Bewusstsein, dass dieser Knarzen wird?
Ein weiteres festgestelltes Phänomen des Abends ist es,
dass, wenn sich jemand die Freiheit nimmt, sich des im Rachen gesammelten
Auswurfs mittels Räuspern zu entledigen, stimmen sogleich eine Vielzahl von Sympathisanten
ein und tun es ihm gleich. Fast ungeniert wird geräuspert und gehüstelt was das
Zeug hält. Und weil sich eh gerade alle Husten und Räuspern nutzt man die
Gelegenheit und ändert geräuschvoll die Sitzposition. Das geht ja quasi unter
in den störenden Geräuschen. Und das alles fast unmittelbar nach der
Applauspause. Ich nehme mir die Freiheit von Entdeckern, Neuentdeckungen einen Namen vergeben zu
dürfen und nenne sie Trittbrettstörer. Aber wirkliche Schuld würde nur derjenigen
haben, der angefangen hat.
Gab es die während des Konzerts störenden Geräusche
eigentlich auch während des Applauses, oder komme diese nur während der musikalischen
Darbietung vor? Ich mache mir eine Gedankennotiz, dies bei nächster Gelegenheit
zu prüfen und eventuell wieder mit einem Namen von mir zu versehen.
Die Musik wird mittlerweile von einer Gesangssolistin
begleitet und ich versuche mich wieder in ihr zu verlieren.
Klimper. Hüstel.
Diesmal ein böser Blick über die Schulter und kräftiges
Kopfschütteln.
Schneuz.
Es ist Pause. Gott sei Dank. Ich war mir nicht mehr ganz
sicher, ob ich mich noch voll im Griff hatte. Ab zur Labstelle des Hauses und
ein Glaserl Sekt zur Beruhigung bestellt. Vielleicht sollte das Haus eine Runde
ausgeben, um all die trockenen Kehlen zu befeuchten und so allen Zuhörern ein
uneingeschränktes Musikerlebnis zu garantieren. Ich bin mir aber ziemlich
sicher, dass das nur dazu führen würde, dass zumindest die Damen laufend
aufstehen und zur Toilette gehen müssten. Die Herren würden sich mit mehr oder
weniger geräuschvollem Aufstoßen begnügen. Also kein Sekt für alle.
Die Glocke mahnt zum Einnehmen der Plätze. Und Teil zwei des
Abends kann beginnen. Wieder nimmt mich die Musik mit ihren ersten Tönen mit auf
eine wunderschöne Reise in eine Welt voller Harmonie. Breitet ihre Schwingen im
Raum aus und umschmiegt mich. Wohlige Wärme breitet sich im Körper aus. Die
Musik manifestiert sich bereits körperlich. Und ich genieße es.
Räusper.
Wir schreiben etwa zehn Sekunden nach Wiederbeginn. Das könnte ein
neuer Rekord sein. Und das Schlimmste dabei, ich bekomme selbst einen trockenen
Hals. Die Trockenheit breitet sich aber nur im Rachen und im Hals aus. Die
Feuchtigkeit aber konzentriert sich im Mund. Ich laufe Gefahr überzulaufen,
also schlucke ich und erwarte in erboste Gesichter zu blicken. Aber anscheinend
stört das Geräusch des Hinunterschluckens weit weniger als es viele andere tun.
Klimper.
Gedanklich belege ich mittlerweile viele der Gäste mit
Hausverbot aus verschiedenen Gründen, wie zum Beispiel, dass das Tragen von Klangkörper
am Körper nur Mitgliedern des Orchesters vorbehalten ist. Ich entwerfe auch bereits
Tests, mit denen das Publikum vor Eintritt auf Eignung zum Stillsitzen überprüft
wird. Und um all jenen die hier durchfallen, also geschätzte 80%, die
Möglichkeit eines schönen Konzertabends nicht vorenthalten zu müssen und allen anderen,
also den restlichen 20%, den Abend nicht zu vermiesen, könnten eigene
abgetrennte Bereiche im Saal geschaffen werden, die hermetisch vom restlichen
Publikum abgeschirmt sind. Oder sie bekommen eine CD an der Kasse für zu Hause.
Knaaaarz.
Der Versuch das Knarzen als Teil des Gebäudes zu sehen und ihm
keine weitere Beachtung zu schenken, scheitert sang- und klanglos. Zudem wird die eigene
Sitzposition unbequem. Ich versuche mich mit dem Wohlklang der Musik abzulenken.
Hust. Schneuz. Röchel.
Ich kann nicht mehr anders als mich nur noch auf die
Störgeräusche zu konzentrieren. Die Musik gerät völlig in den Hintergrund. Ich
warte gebannt auf die nächste Störung und versuche zu erraten, was es sein wird.
Husten, Räuspern, oder Sesselrücken, was kommt als nächstes? Zusätzlich baue
ich mir gedanklich ein Zählwerk, das bei jeder Störung umblättert, wie auf
einer Anzeigetafel im Flughafen. Kaum eingerichtet muss ich das Zählwerk um
eine Zehnerstelle erweitern. Ich verfeinere und lege für jede Kategorie eine
eigene Zeile in der Anzeigetafel an. Husten, Räuspern, Knarzen und Diverses.
Dahinter das jeweilige Zählwerk. Nach wenigen Minuten ist Räuspern fast
uneinholbar an der Spitze, gefolgt von einem spannenden Zweikampf um Platz zwei
zwischen Husten und Knarzen. Diverses liegt abgeschlagen auf Platz vier. Dafür
bezahle ich also.
Klimper. Knarz. Hust.
Zwischendurch vernehme ich noch Musik, aber erfreuen kann
ich mich daran nicht mehr.
Hüstel.
Vielmehr steigert sich meine Aggression ins Unermessliche.
Knaaaaarz.
Krampfhaft versuche ich
Räusper.
mich auf die Musik
Schneuz.
Zu
Klimper.
konzentrieren…
Schneuz. Röchel. Hust. Klimper.
Räusper.
Ich kann nicht mehr! Es ist zu viel für mich!
Ich springe auf und schreite unter lautstarker Beschimpfung
des körperkontrollunfähigen Publikums zur Türe, reiße diese auf und blicke in
aufgebrachte Gesichter. Es ist mucksmäuschenstill, keiner wagt auch nur zu
atmen. Was hätte ich für eine solche Stille während des Konzerts gegeben.
Ich bin noch in Gedanken und frage mich gerade, wie sie es nur so schnell geschafft
haben so viele mir böse gesinnte Menschen hinter der Türe zu versammeln,
stürzen sie sich auch schon auf mich. Billeteure, Sicherheitskräfte und selbst
Servicepersonal begraben mich unter sich. Und plötzlich blitzt blank poliertes
Metall auf und ich verspüre einen Schmerz in meiner Brust. Ich denke mir noch,
aber mit Sektgläsern den Saal betreten ist verboten, schon spüre ich wie sich
auf meinem Hemd etwas Warmes ausbreitet. Ich schreie.
Und ich wache auf. Schreiend springe ich auf und greife mir
an die Brust. Der Fleck ist nicht zu übersehen und warm. Ebenso warm, wie man
es von einem eben aus dem Mund ausgetretenen Speichel erwarten darf. Der den
Fleck mit dem Mund verbindende Speichelfaden lässt keinen Interpretationsspielraum
zu.
Ich nicke meiner Begleitung zu und verlasse das Konzert in
einer Stille, die ein Publikum nie wieder erreichen wird.
Stille.
Stefan